Oberauer Hilfstransport Ukraine 2022
Interview 1
Interview 2
Bericht André Liebe
Kyrill heißt jetzt Cirillo, und Artjom ist Arturo. Wenn Rocco Calocero, der Wirt der Pizzeria „Caprese“, eines nicht mag, dann sind es Vornamen, die nicht nach Italien klingen. Und so werden die ukrainischen Jugendlichen und ihre Mütter mitten in der Nacht kurzerhand umgetauft, während sie Tortellini in Brodo löffeln und mit unsicherem Blick das Treiben um sie herum beobachten.
Es ist jetzt halb zwei am sehr frühen Montagmorgen, und alle sind todmüde, ins Bett darf aber noch keiner, denn Rocco hat verfügt: „Diese Leute brauchen jetzt erstmal eine heiße Suppe.“ Stunden vorher, auf der Autobahn irgendwo in Ungarn, hatte Rocco daheim in Oberau angerufen und seine Frau im breitesten Dialekt der Basilicata genau instruiert, was sie in der Küche alles vorzubereiten habe, damit die drei Frauen und ihre Kinder die erste warme Mahlzeit nach ihrer Flucht aus der Heimat bekommen.
Nur ein paar hundert Meter von der Pizzeria entfernt, sinken André Schlieper und Andreas Vießmann erschöpft, aber glücklich in den Sessel. Der Kronkorken einer Bierflasche ploppt, und Schlieper verschickt an diesem Tag eine letzte Nachricht über WhatsApp: „Das war der beste Männerausflug, den ich je unternommen habe. Jungs, wir haben geliefert.“ Dass er da zwei Frauen übersehen hat, die sich inmitten der Männer tummelten und mit ihnen an einem Wochenende knapp 2.500 Kilometer im Auto absolvierten, um Hilfsgüter in die Ukraine zu liefern und 39 Flüchtlinge mitzunehmen, nimmt ihm keiner übel. Dafür war das, was Schlieper und Vießmann in vier Tagen auf die Beine gestellt haben, einfach zu großartig.
Nur ein paar hundert Meter von der Pizzeria entfernt, sinken André Schlieper und Andreas Vießmann erschöpft, aber glücklich in den Sessel. Der Kronkorken einer Bierflasche ploppt, und Schlieper verschickt an diesem Tag eine letzte Nachricht über WhatsApp: „Das war der beste Männerausflug, den ich je unternommen habe. Jungs, wir haben geliefert.“ Dass er da zwei Frauen übersehen hat, die sich inmitten der Männer tummelten und mit ihnen an einem Wochenende knapp 2.500 Kilometer im Auto absolvierten, um Hilfsgüter in die Ukraine zu liefern und 39 Flüchtlinge mitzunehmen, nimmt ihm keiner übel. Dafür war das, was Schlieper und Vießmann in vier Tagen auf die Beine gestellt haben, einfach zu großartig.
„Wir beide wollten einfach nicht zu Hause rumsitzen und im Fernsehen den Krieg in der Ukraine verfolgen, sondern selbst was tun“, sagt Schlieper. Das war an einem Dienstag: Drei Transporter hatten sie da schnell beisammen, zwei gehören ohnehin ihnen, der dritte stammte von der Oase-Kirche in Burgrain. Dann haben ihre Frauen zum Handy gegriffen und über Facebook und WhatsApp die Nachricht verbreitet, dass aus Oberau ein Hilfstransport in die Ukraine geplant sei – eine Nachricht, die eine kleine Lawine losgetreten hat. „Wir wurden förmlich überrannt von Spenden und Hilfsangeboten“, können Carina Schlieper und Reni Vießmann noch immer nicht fassen, was sich in den folgenden Tagen abgespielt hat. Als die Oberauer am Samstag um 6 Uhr letztlich aufbrachen, waren neun Fahrzeuge mit 16 Fahrern und fünf Tonnen an Hilfsgütern unterwegs.
Am Donnerstag sah es bei Schliepers aus, als wäre das gesamte Haus verwüstet worden: überall Tüten, Säcke und Kartons, daneben Decken, Windeln, Zahnbürsten und Konserven. Teilweise war der halbe Ort mit Packen und Beschriften beschäftigt, dank Google Übersetzer alles auch in Kyrillisch, um die Formalitäten an der Grenze in die Ukraine zu vereinfachen. Die, die nicht gepackt haben, standen daheim in der Küche, buken Nussecken für die Fahrer oder kauften Proviant für die Rückfahrt. Andere wiederum klebten blau-gelbe Ukraine-Schilder an die Fahrzeuge mit der Aufschrift „Humanitarian Transport“, die Voraussetzung dafür, dass der Konvoi letztlich mautfrei durch Österreich und Ungarn kam. „Wir waren als offizieller Hilfstransport sogar beim Auswärtigen Amt in Berlin registriert“, betont André Schlieper. Wieder andere brachten einfach Geld vorbei, fürs Benzin und die Verpflegung.
Im Gegensatz zu vielen Hilfstransporten, die im Augenblick nur bis an die Grenze zur Ukraine fahren und dort ihre Fracht abladen, stand für Schlieper und Vießmann von Anfang fest, dass „wir reinfahren“. Und zwar nach Ushgorod, der westlichsten Stadt der Ukraine, unmittelbar an der Grenze zur Slowakei, eine Region, die vom Krieg noch verschont war, weshalb sich dort hunderttausende von Flüchtlingen aus dem ganzen Land tummelten. Ihre Anlaufstelle dort: ein zur Flüchtlingsunterkunft umfunktioniertes Waisenhaus der internationalen Entwicklungsgesellschaft „nehemia team“, mit der die Burgrainer Oase-Kirche eng zusammenarbeitet. „Das hat natürlich alles sehr viel einfacher für uns gemacht“, sagt Andreas Vießmann, „weil wir dort unsere Hilfsgüter ausladen und am nächsten Tag die vorher schon ausgewählten Flüchtlinge einfach mitnehmen konnten.“
So ganz einfach war das alles dann aber trotzdem nicht: Das begann schon damit, dass ein Transporter in Ungarn feststeckte, weil der Fahrzeugschein nur in Kopie im Handschuhfach steckte und ein Grenzübertritt deshalb unmöglich war. Und das ausgerechnet der größte Transporter, der die meisten Hilfsgüter geladen hatte. Da halfen alle Bitten nicht, auch Rocco Calocero stieß an seine Grenzen. Kein Beamter griff zu, als er ihm die prall gepackte Verpflegungstasche reichte und meinte: „Komm, du musst doch was essen bei dieser Kälte.“
Das Thermometer war schon unter null Grad gesunken, frierend blieb die Besatzung des großen Transporters zurück, während der auf acht Fahrzeuge geschrumpfte Konvoi die letzten 35 Kilometer bis Ushgorod zurücklegte. Zwei Transporter kehrten dann wieder um, fuhren zurück zur Grenze, um die Fracht des VW Crafter aufzunehmen und sich noch einmal auf den Weg ins Flüchtlingsheim zu machen. Da war es schon kurz vor drei am Sonntagmorgen. Während die einen sich in Ungarn im Transporter in den Schlafsack hüllten, hatten es die anderen auf den Matratzen in Ushgorod wenigstens etwas wärmer. Mehr als zwei Stunden hat in dieser Nacht aber keiner geschlafen.
Als der Konvoi dann wieder an der Grenze zu Ungarn ankommt, ist der Krieg plötzlich ganz nah: Erstmals seit Beginn des russischen Einmarsches wird auch für den Westen der Ukraine Fliegeralarm gegeben. Hier an der Grenze bleibt alles ruhig, keine Sirene, kein Motorenlärm sind zu hören. Ein wenig mulmig ist den Oberauern aber schon zumute. Dann, nach über zwei Stunden voll penibler Grenzkontrollen, sind endlich alle 39 Ukrainer in Ungarn angelangt, die Rückfahrt kann beginnen. Noch einmal elf, zwölf Stunden im Auto. Bei Rocco Calocero dauert es ein wenig länger: Auf einem Autobahnparkplatz kurz vor Budapest packt er den mitgebrachten Parmesan-Laib aus. Jetzt müssen alle erstmal ausgiebig probieren. Die drei Frauen und ihre Kinder wissen erst nicht recht, wie ihnen geschieht, doch die italienische Lebensart bricht schnell das Eis. Hinterher, im Auto, gibt es nur ein Thema: Wie gut der Käse doch geschmeckt hat. Manchmal sind es ganz kleine, einfache Dinge, die helfen, ein Kriegstrauma für kurze Zeit vergessen zu machen.
Die drei Frauen, Schwestern, von denen eine schwanger ist, und ihre Kinder stammen alle aus Kiew. „Dort war es die letzten Tage ganz schön laut“, sagt Daniel und meint die Bombenangriffe. Vier Tage war der Sechzehnjährige, der später dann – natürlich – zu Daniele wurde, mit seiner Mutter, den Tanten, Cousins und Cousinen auf dem Weg, bis sie in Ushgorod angekommen waren. Der Krieg meldet sich aber zurück, im VW-Bus nach Deutschland, als plötzlich ein Handy laute Geräusche von sich gibt. „Jetzt ist Fliegeralarm in Kiew“, sagt Daniel.
In Oberau ist nach der Abreise des Konvois nur kurz Ruhe eingekehrt: Carina Schlieper und Reni Vießmann schnaufen ein wenig durch, dann klemmen sie sich wieder hinters Telefon, schließlich müssen die 39 Flüchtlinge alle untergebracht werden, bei Familien und in Ferienwohnungen. Anfangs läuft alles wie am Schnürchen, doch plötzlich, am Sonntagmittag, als der Tross schon auf der Autobahn ist, bricht ein Quartier weg. Ausgerechnet jenes für die acht Ukrainer, die bald italienische Namen erhalten sollten. Von Ungarn aus und in Oberau wird hektisch telefoniert. Dass für die Familie binnen 20 Minuten eine Bleibe in einem Hotel in Ettal gefunden wurde, ist fast schon sinnbildlich für diese außergewöhnliche Hilfsaktion. „Es ist unglaublich, ein richtiges Wunder“, strahlt Carina Schlieper, die es eigentlich noch immer nicht so richtig fassen kann, welche Welle der Hilfsbereitschaft dieser Aktion entgegenschlug. Dass es sich dabei um etwas Außergewöhnliches gehandelt hat, fasste die erst 15-jährige Valeria mitten in der Nacht in der Pizzeria in ganz einfachen Worten zusammen: „Dafür, dass ihr uns in Sicherheit gebracht habt, seid ihr unsere ganz persönlichen Helden.“